«FRATELLI TUTTI»?

Zur Enzyklika von Papst Franziskus

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Buon Samaritano Fratelli tutti, n°66: «Betrachten wir das Modell des barmherzigen Samariters. Dieser Text lädt uns ein, unsere Berufung als Bürger unseres Landes und der ganzen Welt, als Erbauer einer neuen sozialen Verbundenheit wieder aufleben zu lassen. » (Der Barmherzige Samariter, Ausschnitt aus einem Mosaik von Pater Rupnik, Kapelle des Allerheiligsten in der Almudena-Kathedrale in Madrid. ©Centro Aletti – LIPA Edizioni)

„Wenn die Überzeugung, dass wir als Menschen Brüder und Schwestern sind, keine abstrakte Idee bleiben (...) soll, dann stehen wir vor einer Reihe von Herausforderungen“ (FT 128).

Die erste dieser Herausforderungen besteht darin zu verstehen, ob und warum wir alle Brüder und Schwestern sind. Angesichts der täglichen Kriege, des Hasses aller Art in Vergangenheit und Gegenwart, des Terrorismus, der persönlichen und kollektiven Grausamkeit fragt man sich, ob und wie man von Brüderlichkeit sprechen kann. Dieses Wort hat auch zu ideologischen und politischen Missverständnissen geführt, und die Französische Revolution des 18. Jahrhunderts hat daraus einen Dreh- und Angelpunkt des „neuen“ Zeitalters gemacht – das doch von Gewalt, Rassentrennung, Kolonialismus, Krieg und danach von der Ausbeutung der Arbeitskraft sowie von der Entstehung komplexer Herrschafts- und Vormachtsideologien (Nationalsozialismus, Kommunismus und Diktaturen unterschiedlicher Inspiration) geprägt ist.

Für Christus und für die Kultur, die in ihm entsteht, hat die Brüderlichkeit eine andere Geschichte – eine biblische Geschichte – die zutiefst menschlich und existentiell ist und doch den lateinischen Ausspruch nicht vergisst: homo homini lupus („Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen“ - Asinaria von Plautus, II, 4, 88), mit dem der Egoismus der Menschen und der Überlebenskampf erklärt werden soll, den sie gegeneinander führen.

Die Vision, die Jesus als wahre Neuerung zeichnet, ist „anders“. Und in diesem Sinne müssen wir den Ausdruck aus den Admonitiones verstehen, die dem heiligen Franziskus zugeschrieben werden und in denen er seine Brüder bat, auf Christus zu schauen, um den Sinn der Brüderlichkeit zu verstehen, die er unter ihnen haben wollte.

Aus biblischer Sicht entsteht die Vorstellung der Brüderlichkeit (die älter ist als jede andere Form der Brüderlichkeit, die in einem sehr vereinfachenden Sinn eher einer Kameraderie gleicht) nicht allein aus dem Merkmal, dass man eine biologische Mutterschaft oder Vaterschaft gemeinsam hat. Vielmehr geht sie über den biologischen Aspekt hinaus, wie es im Psalm 51 sehr gut und existentiell zum Ausdruck kommt: „In Sünde hat meine Mutter mich empfangen“ (Vers 7). In der Tat ist sich der Mensch nach Meinung dieses Psalms bewusst, dass er im Leben manchmal Gefährte von Dieben, Ehebrechern oder Betrügern ist und es sogar vorkommen kann, dass er in einer großen Verachtung Gottes seinen Nächsten umbringt (vgl. Psalm 50, Vers 16 und folgende). Das schlechte Gewissen bringt Kain fast dazu, den Ewigen zu belügen, indem er versucht, sich seiner Bruderschaft mit Abel zu entziehen. Und diese Geschichte setzt sich in der ganzen Menschheit fort. Die Erbsünde (die heute in der zeitgenössischen Theologie und Predigt fast „verschrottet“ wurde) tragen wir nämlich mit uns herum. Denn ohne sie gibt es nicht einmal die Taufe des Geistes (vgl. Johannes 3,3-8), wie Jesus Nikodemus lehrte, der verstehen wollte, was die von Christus verkündete „Neuerung“ war. Und es gäbe auch keinen Platz für jenes „Lamm Gottes, ... das die Sünde der Welt hinwegnimmt!“ (Johannes 1,29), also für Jesus, auf den Johannes der Täufer hinwies, als er ihn auf sich zukommen sah.

Um welche „Neuerung“ handelt es sich? Jesus lehrte die Menschenscharen und die Jünger das Kernstück der Beziehungen zu Gott, zur Gesellschaft (auch zur religiösen Gesellschaft) und zu den anderen. Dann erklärte er entschieden: „Ihr alle seid Brüder“ (Matthäus 23,8). Hier ist nicht einfach vom Judentum die Rede. Er blickt weiter, denn „nur einer ist euer Vater, der im Himmel“ (Matthäus 23,9). Bei Jesus wird die Frage transzendent. Die Brüderlichkeit – so sagt Jesus – leitet sich vom himmlischen Vater ab, und deshalb überwindet sie alle Diskriminierungen im Zusammenhang mit Hautfarbe, Kultur und Tradition. Ein „Ursprung“, der selbst innerhalb der Kirche entweder abgewertet oder ignoriert zu werden scheint. Die anthropologischen und soziologischen Analysen, auch die der Kirche, werten diesen Ursprung entweder ab oder übergehen ihn. Wenn es keinen Aufruf zur Transzendenz mehr gäbe, wäre die Brüderlichkeit gebrochen: Die Gleichheit würde den verschiedenen Zwängen nicht standhalten, auch dem wirtschaftlichen und sozialen Druck nicht, und die Freiheit würde sich egoistisch in sich selbst abkapseln. Die Brüderlichkeit hat eine transzendente Reichweite. Daran erinnert auch die päpstliche Enzyklika und zitiert dabei die Enzyklika Centesimus Annus von Johannes Paul II. (vgl. FT 273).

Wir stehen vor einer weiteren Herausforderung: Wenn die Transzendenz wahr ist, von welchem Gott reden wir dann? Die Frage wurde mir in einer einfachen, aber tiefgründigen Weise von einem Christen gestellt, der im Iran lebte, als ich in diesem Land arbeitete, und der ständig mit dem „Gott des Islam“ konfrontiert wurde. Er fragte sich in einer gewissen Ratlosigkeit: „Ist der Gott Jesu Christi derselbe Gott wie der, den die Muslime verkünden?“ Die Frage war nicht unnütz. Die konkreten Widersprüche, die Tatsache, als „Ungläubiger“ (kāfir) bezeichnet zu werden, waren und sind ganz real. Für die Beziehungen zwischen Christen und Muslimen (vgl. Dokument über die Brüderlichkeit aller Menschen für ein friedliches Zusammenleben in der Welt vom 4. Februar 2019) stellt Abu Dhabi eine neue Etappe dar, zumindest was den Verzicht auf Krieg und auf die Auslösung neuer humanitärer Krisen betrifft. Terrorismus und Extremismus richten sich gegen Abu Dhabi. Doch die Hoffnung, dass die abrahamitischen Wurzeln der drei monotheistischen Religionen, über die das Zweite Vatikanische Konzil spricht (vgl. LG 16), Früchte tragen können, ist nicht erloschen. In diesem Klima ist es also nicht gewagt zu glauben, dass die Abraham-Abkommen (zwischen den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain und Israel, mit der Möglichkeit einer künftigen Erweiterung) eine Initiative mit bisher undenkbaren diplomatischen, wirtschaftlichen, kulturellen und religiösen Konsequenzen sind. Aus der Logik der Konfrontation auszubrechen, bedeutet, anders und „höher“ zu denken.

Wenn Jesus vom „himmlischen Vater“ spricht, meint er mit Sicherheit den Gott der Offenbarung Abrahams. Er spricht nicht von einem abstrakten und philosophischen Gott. Auf die Frage der Samariterin hin (bedenken Sie, dass die Samariter und die Juden einander sehr wenig schätzten!), die ihn fragte, welchen Gott man anbeten solle, gab Jesus eine Antwort, die weit über den nahe gelegenen Berg Garizim hinausblickte, auf dem die Samaritaner „ihren“ Gott anbeteten, aber auch weit über den Hügel von Jerusalem, auf dem die Juden den Allerhöchsten anbeteten. Jesus hingegen spricht von einem „Vater“, der „im Geist und in der Wahrheit“ angebetet werden will: „Denn so will der Vater angebetet werden. Gott ist Geist, und diejenigen, die ihn anbeten, müssen im Geist und in der Wahrheit anbeten“ (Joh 4,23-24). Dieser Gott wird dann durch und in Jesus Christus, dem Messias offenbart, den man nicht mehr außer Acht lassen kann. Ohne ihn kehren wir entweder zum Pantheismus oder zu den irenisch-theosophischen Spaltungen eines Gottes zurück, der platonisch oder esoterisch geprägt ist. Der Gott Jesu Christi hat die Züge des Vaters, der uns durch den Sohn erleuchtet, erlöst, versöhnt und uns am Kreuz für die Brüderlichkeit öffnet. Doch welche Brüderlichkeit?

Um jede Unklarheit in Zukunft auszuschließen, erzählte Jesus dem Gesetzeslehrer, der um Erklärungen bat, das schöne Gleichnis vom barmherzigen Samariter (vgl. Lukas 10, 25-37). Er gibt keine Theorie, sondern Beispiele, und vor allem dieses eine, sehr starke: „Geh und handle du genauso“ (Lukas 10, 37). Die Enzyklika von Papst Franziskus veranschaulicht mit unbestreitbarer Klarheit dieses Gleichnis, das den theologischen Kern der Lehre Jesu über die Brüderlichkeit darstellt und im Mittelpunkt des päpstlichen Dokuments steht (vgl. die Nummern 56 ff.). Das Gleichnis – so erklärt der Papst – macht deutlich, dass „Jesus auf die bessere Seite des menschlichen Geistes vertraut“ (FT 71), die in der Wahrheit Gestalt annimmt und aus ihr entsteht.

In der Wahrheit? Wieder denkt der Christ an Christus: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6). Vereinfacht können wir sagen, dass Jesus seine Lehre für uns sozusagen noch klarer darstellt, indem er über die schwierigsten menschlichen Taten spricht, wie zum Beispiel (vgl. Matthäus 5,20 ff.) die Rache („Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand…: Matthäus 5,39), die menschliche Beziehungen („Und wenn dich einer zwingen will, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm!“: Matthäus 5,41), unsere Haltung den Bedürftigen gegenüber („Wer von dir borgen will, den weise nicht ab“: Matthäus 5,42) oder unsere Beziehung zu unseren Gegnern („Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er gegen mich sündigt? Bis zu siebenmal? … Ich sage dir nicht: Bis zu siebenmal, sondern bis zu siebzigmal siebenmal“: Matthäus 18,21-22). Achtung! – sagt Jesus – eine gewisse Brüderlichkeit gibt es auch zwischen den „Zöllnern“ und den „Heiden“, doch für den Christen bezieht sich die Brüderlichkeit auf „euren himmlischen Vater“ (Matthäus 5,48)!

Die Brüderlichkeit, über die Jesus spricht, kann daher nicht auf eine einfache anthropologische oder soziologische Gegebenheit reduziert werden. Für den Christen ist es eine theologische, transzendente Frage (vgl. FT 85). Das heißt, er braucht Gott-Vater, das Leitprinzip und den Schlussstein jeder Konstruktion von Brüderlichkeit. Ohne Gott-Vater bricht die Brüderlichkeit zusammen, zudem braucht sie ständig Stützbalken: Toleranz, Einigung, Norm, Urteil, Stärke. Die Vernunft für sich allein ist nicht imstande, Brüderlichkeit zu schaffen (vgl. FT 272).

Als unser Meister garantiert Jesus eine Vision, die über die anthropologische Grenze an sich hinausgeht. Mutter Teresa von Kalkutta fragte eine Ordensschwester, die die Kongregation verlassen wollte, weil sie den Geruch der Armen nicht mehr ertragen konnte, wer dieser Arme war, den sie an jenem Tag aufgenommen hatte: „Hatte er nicht das Angesicht Christi?“ Daraufhin blieb die Ordensschwester in der Kongregation. Der Papst schreibt: „Christus in jedem … Bruder wiederzuerkennen“ (FT 85), ermöglicht den Christen über die vielen Überlegungen und Fragen hinauszugehen, die uns beschäftigen. Dies verweist uns auf die dritte göttliche Tugend, die Nächstenliebe, die jede Beziehung neu belebt. Die Nächstenliebe geht weit über jede soziologische oder biologische Dimension hinaus. Sie entspringt in einem Gott, den wir „um seiner selbst willen über alles lieben. Und aus dieser Liebe zu Gott lieben wir unseren Nächsten wie uns selbst“ (KKK 1822). Die Nächstenliebe findet ihre Erfüllung in Jesus, der sie Seinen bis zur Vollendung liebte (vgl. Johannes 13,1).

Der Brief an die Hebräer bietet eine interessante Erklärung zu dem Menschsein, das Christus angenommenen hat, und ruft auf bewundernswerte Weise in Erinnerung, dass es „angemessen war“ (decebat, eprepen - Hebräer 2,10), dass die Menschwerdung Jesu, „der heiligt“ und „der sich nicht schämt, uns Brüder zu nennen“, unsere Erlösung erwirkte (Hebräer 2,11).

Eine letzte Herausforderung: Wir sind alle Brüder, aber „unterschiedliche“ Brüder? Ja. Die Vielfalt berührt weder die soziale Bedeutung der Existenz noch die Überzeugung der Würde jeder Person noch die geschwisterliche Dimension der Spiritualität (vgl. FT 86). Die Vielfalt fördert den menschlichen Reichtum und die Schönheit. Denn wir denken nicht an eine Vielfalt mit einem vage philanthropischen oder universalistischen Beigeschmack, sondern an eine Vielfalt, die eine wahre Form der sozialen „Freundschaft“ schafft, die dank der Aufrichtigkeit des Herzens Wahrheit, Gemeinwohl und Frieden hervorbringt.


Fernando Kardinal Filoni

 

(Dezember 2020)